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„Selbst Einser-Pädagogen haben keine Job-Sicherheit“

Jürgen Böhm, Vorsitzender des Bayerischen Realschullehrerverbandes (brlv), fordert die vermehrte Festeinstellung junger Lehrkräfte

Der bayerische Realschullehrerverband schlägt Alarm. Angesichts des in anderen Bundesländern vorherrschenden Lehrkräftemangels müsse Bayern Kante zeigen und mehr Pädagogen einstellen, fordert brlv-Vorsitzender Jürgen Böhm. Junge Absolventen müssten jetzt rekrutiert, befristete Verhältnisse in dauerhafte umgemünzt und ein kontinuierlicher Einstellungskorridor geschaffen werden. Im Gespräch mit unserer Zeitung fürchtet Böhm, der auch der Bundesvereinigung der Realschullehrer vorsitzt, dass die mittlere Säule des dreigliedrigen Schulsystems ins Wanken geraten könnte.

Herr Böhm, das Bayerische Kultusministerium hat Ihnen für das laufende Schuljahr ein Geschenk gemacht. Anstelle der 234 geforderten Lehrer haben die bayerischen Realschulen sogar 271 neue Pädagogen bekommen. Reicht Ihnen das nicht?

Jürgen Böhm: Die Bedingungen an den bayerischen Realschulen haben sich im Vergleich zu den Vorjahren verbessert. Natürlich sind wir den politisch Verantwortlichen und dem Kultusministerium dankbar – wir haben das bekommen, was unsere Schüler an den Realschulen gebraucht haben. Doch wir haben an den Realschulen immer noch die meisten Schüler pro Klasse, verbunden mit den wenigsten Lehrerwochenstunden pro Schüler. Es besteht also weiterhin Verbesserungs- und Handlungsbedarf. Unsere Schüler haben das Recht auf eine intensive individuelle Förderung, zumal Absolventen mit dem bayerischen Realschulabschluss als Fachkräfte in Wirtschaft und Handwerk sehr begehrt sind.

Wie groß ist die durchschnittliche Klassenstärke in bayerischen Realschulen derzeit?

Böhm: Sie liegt bei 26,4 Schülern im Durchschnitt. Noch vor ein paar Jahren lagen wir bei 29 Schülern pro Klasse. Man darf jedoch nicht vergessen, dass das eben ein Durchschnittswert ist – es gibt an manchen Schulen durchaus noch Klassen mit 30 und mehr Schülern. Dadurch wird es für den Pädagogen schwer, auf den Einzelnen einzugehen. Unser Wunsch wäre perspektivisch nicht mehr als 25 Schüler pro Klasse. Deshalb fordern wir einen Ausbau der integrierten, aber auch der mobilen Lehrerreserve. Wir brauchen für die integrierte Reserve mindestens 24 zusätzliche Wochenstunden pro Schule, im Schnitt sind es aber derzeit nur ca. 17 Wochenstunden. Das merkt man deutlich.

Woran?

Böhm: Wir haben den Anspruch, unsere Schüler fit fürs Leben zu machen – Stichwort zukunftsorientierte Bildung. Dazu gehört für uns, dass wir großen Wert auf eine demokratische Werteerziehung legen, ebenso auf einen sinnvollen Umgang mit den neuen Medien. Wir brauchen pädagogische Freiräume, um den Schülern die Fragen beantworten zu können, die sie beschäftigen – zu politischen Ereignissen beispielsweise. Gerade in Zeiten, in denen die Welt scheinbar verrückt spielt, wird dies immer wichtiger.

Gibt es denn diese pädagogischen Freiräume im Schulalltag nicht?

Böhm: Nicht in dem Sinne, wie wir sie benötigen. Die Kommunikation hat sich sehr verändert, ist durch die Sozialen Netzwerke viel schneller und komplexer geworden. Die Lehrer müssen auch mal die Gelegenheit haben, sich am Wochenende aktuelle Themen zu erarbeiten, anstatt in Korrekturen zu ertrinken. Hinzu kommt, dass viele junge Kollegen seit Jahren befristete Stellen haben. Das sind oft sehr gute Pädagogen mit sehr guten Abschlüssen, die trotzdem keinerlei Sicherheit haben. Wir müssen aufpassen, dass diese Lehrkräfte und die neuen Absolventen nicht in andere Bundesländer abwandern. Im Norden hat man es beispielsweise verpasst, rechtzeitig Einstellungskorridore zu schaffen – und bereut das jetzt bitterlich.

Warum, wie ist die Situation dort?

Böhm: Die Kollegien sind dort veraltet, Lehrer werden händeringend gesucht. Weil kaum Absolventen da sind, werden fachfremde Seiteneinsteiger eingestellt, die dann zum Beispiel Englisch unterrichten. Das sorgt in den Kollegien natürlich für Zündstoff: Diesen Quereinsteigern kann mitunter das pädagogische Fingerspitzengefühl fehlen. Diese pädagogische Ausrichtung wiederum ist extrem wichtig, um die Schüler zu erreichen. Wir leben in Zeiten, in denen viele „Rattenfänger“ in den Sozialen Netzwerken unterwegs sind. Darauf müssen die Kinder und Jugendlichen in den Schulen vorbereitet werden. Sie müssen den richtigen Umgang mit den Medien beherrschen, ebenso müssen sie sich mit Extremismus, egal ob in politischer oder religiöser Form, auskennen.

Welche Rolle spielt die Integration von jungen Flüchtlingen bei Ihrer Forderung nach mehr Lehrerstunden?

Böhm: Die Realschule in Bayern ist per se hochintegrativ. Das haben wir in der Vergangenheit bewiesen – viele Kinder mit Migrationshintergrund sind durch die Realschule aufgestiegen. Wir haben 17 sogenannte Sprint-Standorte an Realschulen in Bayern, das sind Sprachintensiv-Kurse für die Qualifizierung von jungen Flüchtlingen. Diese Anzahl ist ausreichend, da der Großteil der minderjährigen Flüchtlinge mindestens 16 Jahre alt ist, und damit zu alt für unsere Schulart. Doch egal ob Migranten, Flüchtlinge oder deutsche Schüler, ihnen allen stehen nach dem Abschluss an einer bayerischen Realschule alle Chancen und Möglichkeiten offen, die das bayerische Bildungssystem bietet. Deshalb sollten wir uns davor hüten, den guten Ruf dieser Schulart zu verspielen.

Haben Sie denn die Befürchtung, dass das passieren könnte?

Böhm: Durch meine Tätigkeit als Bundesvorsitzender habe ich natürlich Einblicke in andere Bundesländer. In Baden-Württemberg hat man seit 2011 beispielsweise versucht, mit politisch motivierten Schulstrukturreformen die Realschule zu beschädigen. Unzählige Kinder sind auf einer Schule gelandet, die ihren Fähigkeiten und Neigungen nicht entsprochen hat. Die sogenannte Gemeinschaftsschule wurde von den Menschen in Baden-Württemberg nicht angenommen. Kaum eine Realschule in Baden-Württemberg hat sich zur Gemeinschaftsschule umgewandelt, und seit der letzten Landtagswahl und den verheerenden Ergebnissen der Schulvergleichsstudie des IQB setzt man verstärkt auf die Qualität der Realschule.

Sind Sie demnach gegen die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen in Bayern?

Böhm: Es gibt Länder wie Schleswig-Holstein oder auch Berlin und Hamburg, die die Realschule abgeschafft haben. Wir haben beispielsweise in Berlin das Niveau der Abschlussprüfungen in Mathematik für die mittlere Reife überprüft: Es lag ungefähr auf dem Level der 7. Klasse in den bayerischen Realschulen. Da ist es kein Wunder, wenn Wirtschaft und Handwerksvertreter aufschreien, weil sie mit diesen Absolventen wenig anfangen können. Die Berufsausbildungen der Zukunft werden immer komplexer und komplizierter, dafür brauchen wir sehr gut vorbereitetes Fachpersonal – und das liefert die Realschule in ihrer jetzigen Form.


Interview: Michaela Zimmermann

Zum Original-Artikel auf nordbayern.de

 
Kontakt Jürgen Böhm: 0151 117 155 89
Pressekontakt: brlv: Judith Kadach, 089 55 38 76   


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